Gastbeitrag: Mit offenem Visier

Weshalb ich mich für die Entkriminalisierung (mindestens) bzw. die Relegalisierung (besser) von Vermummung im Versammlungskontext einsetze – theoretisch und praktisch.

Das Vermummungsverbot wurde in Deutschland den 80ern eingeführt, als ich in den 90ern anfing, mich aktivistisch zu betätigen, war es also noch eine relativ „neue Erfindung“. Das Narrativ der bitterbösen, schwarzvermummten Gewalttäter:innen saß jedoch schon ziemlich fest in den Köpfen, auch vieler Versammlungsteilnehmer:innen. Ich wurde als Aktivistin ( genau wie viele Polizist:innen ) mit der Idee sozialisiert, dass „Vermummte“ Gefahr bedeuteten, sich ausschließlich vermummten, um unerkannt ( weitere ) Straftaten begehen zu können, dass es „böse“ vermummte und „gute“ Demonstrant:innen gäbe, die im Gegensatz zu Ersteren „Gesicht zeigten“, zu ihren Überzeugungen stünden. Das habe ich viele Jahre lang selbst so gesehen und praktiziert.

Ich hätte über das „weitere“ stolpern müssen.

In den meisten deutschen Bundesländern ist es eine Straftat, sich bei Versammlungen zu vermummen, in wenigen „nur“ eine (ziemlich kostspielige) Ordnungswidrigkeit, selbst das Mitführen von theoretisch zur Vermummung geeigneten Kleidungsstücken kann fast überall teuer werden, selbst wenn man sie nicht anlegt.

Das erste Mal ins Grübeln kam ich bei einer Demo außerhalb Deutschlands, in einem Land, in dem es seinerzeit kein Vermummungsverbot gab. Weit über die Hälfte der Teilnehmenden machte davon Gebrauch – aber es passierte nicht mehr, als es auf derartigem Demonstrationen üblich ist. Ich unterhielt mich mit einigen Leuten über ihre Motivation, und die war so banal wie logisch. „Es geht niemandem etwas an, an welchen Demonstrationen ich mich beteilige.“

Daran gibt es absolut nichts zu rütteln, wofür oder wogegen ich auf die Straße gehe, hat staatliche Stellen nicht zu interessieren, zumindest solange ich dabei keine >weiteren< Straftaten begehe.

Menschen haben, z.T. sehr „gute“, z.T. für Nichtaktive nicht nachvollziehbare Gründe, sich (nur) anonym an politischen Versammlungen zu beteiligen. Bei manchen stehen berufliche Gründe im Vordergrund, bei anderem die Befürchtung, vom politischen Gegner identifiziert zu werden und dadurch gefährdet zu sein. Das mag auf manche paranoid wirken, aber ist es das wirklich? Dass Menschen, die sich z.B. antifaschistisch, antirassistisch oder in der Geflüchtetenhilfe engagieren auf Listen landen, ausgekundschaftet, bedroht oder angegriffen werden, kommt immer wieder vor. Auch ich möchte nicht von Nazis fotografiert werden.

In den letzten Jahren kam ein weiterer Aspekt verstärkt zum Tragen: illegale Datenabfragen durch Polizist:innen und die Weitergabe an Dritte. Vor dem Hintergrund immer neuer derartiger Meldungen und häufig nicht restlos aufgeklärter Fälle legen viele politisch aktive Menschen Wert darauf, nicht nur nicht vom politischen Gegner ausgekundschaftet zu werden, sondern die Art ihrer politischen Betätigung möglichst auch den Sicherheitsbehörden gegenüber nicht offenzulegen. Das mag traurig sein und einer Demokratie unwürdig, ist jedoch die logische Konsequenz der vorgenannten Ereignisse.

Der Tatsache, dass viele Menschen z.B. durch das Abfilmen einer Demonstration verunsichert sind, ggf. eine Teilnahme nicht wagen, trägt man zwischenzeitlich Rechnung: das grund-/anlasslose Filmen oder Fotografieren von Versammlungsteilnehmer:innen ist nicht zulässig. Selbst Überwachungskameras im öffentlichen Raum müssen häufig deaktiviert, wenn nicht gar demontiert werden. Hier erkennt man den Wunsch nach Anonymität an, wenn auch meist widerwillig. Das Festhalten am Vermummungsverbot steht dazu im Widerspruch.

Nachdem es außer dem illegitimen Motiv, unerkannt Straftaten im Versammlungskontext begehen zu können, offensichtlich auch eine ganze Reihe durchaus legitimer Gründe gibt, was bedeutet es für Versammlungsteilnehmer:innen in der Praxis, sich zu vermummen?

In erster Linie ein Risiko, sowohl persönlich (in Form einer Strafandrohung), als auch für die gesamte Versammlung. Strenggenommen ist die Polizei überall dort, wo Vermummung eine Straftat ist, zum Eingreifen verpflichtet, auch wenn aus taktischen Gründen manchmal (zunächst) davon abgesehen wird. Ein eindrucksvolles, bekanntes Beispiel ist die sog „W2H“ Demo anlässlich des G20 Gipfels 2017 in Hamburg. Sie wurde unter massivem Gewalteinsatz aufgelöst, nachdem eine größere Zahl Teilnehmender nicht auf Vermummung verzichten wollte, eskalierte in der Folge völlig und gipfelte in einer der brutalsten Straßenschlachten der jüngeren Geschichte. Wie die Demonstration verlaufen wäre, wenn man sie trotz Vermummung hätte laufen lassen (können?), bleibt spekulativ. Wo Vermummung nur eine Ordnungswidrigkeit ist, entfällt die Pflicht zu intervenieren, die Polizei kann, muss aber nicht, hat damit de facto mehr Spielraum und die Wahrscheinlichkeit eines insgesamt friedlicheren Verlaufs steigt sogar.

Dass Menschen diese Risiken bewusst in Kauf nehmen, sollte einem zu denken geben.

Nicht allen geht es (ausschließlich) um Persönlichkeitsschutz. Leute, die die Gelegenheit ausnutzen, unerkannt in der Menge untertauchen zu können und aus diesem Schutz heraus gewaltsam agieren, gibt es unbestritten, und ihrer habhaft zu werden, würde zweifellos schwieriger, sollte das Vermummungsverbot fallen. Allerdings hat just die Ausnahmesituation der Corona-Pandemie bewiesen, dass Menschen durchaus „maskiert“ demonstrieren können, ohne gewalttätig zu sein.

Man wird einen Kompromiss finden müssen zwischen dem berechtigten Interesse derer, die ihre Identität schützen und trotzdem von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen wollen und dem ebenfalls berechtigten Interesse, Gewalttäter:innen dingfest zu machen. Erstere zu kriminalisieren ist offensichtlich keine Lösung. Eine bundesweite Herabstufung zur (bezahlbaren) Ordnungswidrigkeit wäre zumindest ein erster Schritt, den man auch als „Testphase“ nutzen könnte.

Ich selbst bin vor einiger Zeit dazu übergegangen, immer entsprechendes Equipment mitzuführen und es manchmal auch zu tragen, mal zu meinem persönlichen Schutz, mal aus Solidarität. Ich „kämpfe“ also mal mit offenem Visier und mal mit geschlossenem. Ob und wann möchte ich selbst entscheiden dürfen.

Der Autorin kann auf Twitter unter @blaulichtzecke gefolgt werden.

Veröffentlicht in Gastbeitrag, Perspektivwechsel, Versammlungsrecht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert